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Wege in die Freiheit

Nicht nur die drei großen monotheistischen Weltreligionen, fast alle anderen Religionen und spirituellen Traditionen auch kennen das Motiv des Weges und sie alle repräsentieren verschiedene Möglichkeiten der Annäherung an das All-Umfassende, das immerwährende Geheimnis des Lebens und des Glaubens.

Die Juden, das wandernde Gottesvolk, machen sich auf den Weg der Zukunft Gottes entgegen bis in das Gelobte Land. Die ersten Christen nannten sich „die vom Weg“, verstanden sich als Transitreisende und Wegbereiter für das Reich Gottes. Im Islam benennt die Hadj, die Pilgerreise nach Mekka, den Lebensweg hin zu Gott als zentrale Lebensaufgabe – eine Aufgabe, die im Sufismus in die verschiedenen Tarikats (Pfade) zu Gott mündet. Der Taoismus ehrt das Tao, das zugleich die Bahn, der rechte Weg und die Essenz des Seins ist. Der Buddhismus kennt den Hohen Achtfachen Weg, der zur Beseitigung der Ursachen des Leidens führt, und der Tantrismus versteht sich als Weg zur Einswerdung mit dem Absoluten und Erkenntnis der höchsten Wirklichkeit. Der Hinduismus weiß um den langen Weg der Seele durch die Inkarnationen. Und noch die Aborigines erzählen und erschaffen sich ihre Welt entlang der Song Lines, der Wanderwege ihres Volkes.

Mehr als 3000 Jahre lang haben die großen westlichen und östlichen Religionen den Dualismus von Seele und Materie, von Geist und Körper gepredigt und durch die Unterscheidung zwischen dem Transzendenten und dem Alltäglichen alle menschliche Hoffnung auf Erlösung in einen jenseitigen, nichtphysischen Bereich verwiesen.

Dann, Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus, wurden die kulturellen Begrenzungen der alten Religionen erstmals durchbrochen und eine letzte Wirklichkeit trat in das Bewusstsein der Menschen. Diese Wirklichkeit, die keinen ihr gemäßen Namen tragen kann, da sie den Verstand übersteigt und sich in Worten nicht ausdrücken lässt, wurde im Hinduismus Brahman und Atman (Geist) genannt, im Buddhismus Nirvana und Sunyata (die Leere), in China Tao (der Weg), in Griechenland To ón (das Sein) und Jahwe (Ich bin) in Israel.

Doch sind das alles nur Worte, die auf ein Geheimnis hinweisen, in dem der tiefste Sinn des Lebens verborgen liegt, das aber kein menschliches Wort und kein menschlicher Gedanke auszudrücken vermag. In diesem Geheimnis liegt das Ziel allen menschlichen Strebens, die Wahrheit, die alle Wissenschaft und Philosophie zu ergründen sucht, die Seligkeit, in der alle menschliche Liebe ihre Erfüllung findet.

Dass sich die ersten Christen „die vom Weg“ nannten, entsprang demzufolge sicher auch dem Bewusstsein, dass die Unendlichkeit Gottes, die Unendlichkeit des Lebens und die Unendlichkeit der Liebe, nie vollends erfahren oder gar gewusst werden kann. Und so war und ist der mystische Weg – nicht nur der des Christentums – seit Jahrhunderten fest verbunden mit dem unstillbaren Verlangen nach Überwindung der Dualität, nach Überwindung der Getrenntheit von Menschen und Gott in der Einheit der Liebe (Gottes).

»Der Mensch des 21. Jahrhunderts wird Mystiker sein – oder er wird nicht sein.«, so formulierte es einst der katholische Theologe Karl Rahner. Mystik heißt „Aufgabe der Persönlichkeit“, Aufgabe des „endlichen, isolierten Ich“. Im Gegensatz zur östlichen Mystik aber, die postuliert, dass das persönliche Selbst sich auflöst, lehren insbesondere die christlichen Mystiker und die Mystiker des vorderen Orients (Sufis), das Fortbestehen von Selbst und Gott in einem vollkommenen Zustand der Vereinigung. „Das, was göttlich ist, wird dem, was menschlich ist, in einer Weise vermittelt, dass beides, ohne eine wesentliche Änderung zu erfahren, Gott zu sein scheint“, so der Heilige Johannes vom Kreuz. So kann aus der Suche nach Gott die Suche nach sich selbst werden – und umgekehrt.